Nur noch mit vollem Rucksack Gassi? … und was das über unsere Gesellschaft aussagt
Es war einmal, da genügte es, einfach die Leine zu greifen, die Haustür zu öffnen, und mit dem Hund loszuziehen – einfach so, ohne großes Tamtam. Kein Rucksack voller Spielzeuge, keine Futterbeutel, keine Schleppleine, keine durchdachte Strategie. Heute aber, im Jahr 2024, sieht ein einfacher Spaziergang ganz anders aus: Wir beladen uns wie Expeditionsteilnehmer, gerüstet für jede mögliche Begegnung, jede Unvorhersehbarkeit, die auf unseren Wegen lauern könnte. Aber warum ist das so? Warum ist es so kompliziert geworden, mit dem Hund einfach nur spazieren zu gehen? Warum fühlt es sich an, als müssten wir alles unter Kontrolle haben?
Wenn wir genauer hinsehen, offenbart sich hinter diesem Wandel mehr als nur der überquellende Rucksack – es ist ein Abbild unserer modernen Welt, unserer Ängste, unserer Erwartungen und dem Wunsch, auch in einer unübersichtlichen und hektischen Zeit irgendwie alles richtig zu machen.
Die Explosion der Hundeanzahl und ihre Folgen
In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Hunde in unseren Städten stark erhöht. Hunde sind mehr als Haustiere; sie sind Familienmitglieder und treue Begleiter. In einer Zeit, in der wir uns nach mehr Zusammenhalt sehnen, geben Hunde vielen Menschen Geborgenheit. Doch mit der wachsenden Zahl an Hunden kommen auch neue Herausforderungen: Plötzlich müssen sich viel mehr Hunde und Menschen denselben begrenzten Raum teilen – und das funktioniert nicht immer reibungslos.
2023 lebten 10,5 Millionen Hunde in deutschen Haushalten, was etwa 21 Prozent aller Haushalte ausmacht (Quelle: ZZF). Ein gewisser Teil dieser „Hundeexplosion“ kommt auch aus dem Tierschutz. Allein in deutschen Tierheimen befinden sich jedes Jahr über 300.000 Tiere, die auf ein neues Zuhause warten – viele davon sind Hunde (Quelle: Hund und Haustier). Die wachsende Bereitschaft, einen Hund aus dem Tierschutz zu adoptieren, ist ein starkes Zeichen für Empathie und Mitgefühl in unserer Gesellschaft.
Hunde aus dem Tierschutz haben oft traumatische Erfahrungen oder sind schlecht sozialisiert. Solche Hunde brauchen behutsame Führung und mehr „Management“, was den Einsatz von Trainingshilfen notwendig macht. (Empfehlung: Blog-Artikel zu den Tierschutzhunden)
Zusätzlich zur gestiegenen Adoption aus dem Tierschutz boomt auch die Nachfrage nach bestimmten Rassen, die teilweise durch verantwortungsvolle Züchter, aber auch durch weniger seriöse Anbieter bedient wird. Der Tierschutzbericht 2023 der Bundesregierung hebt hervor, dass es weiterhin Probleme mit dem illegalen Welpenhandel gibt, bei dem Profit vor das Wohl der Tiere gestellt wird (Quelle: BMEL). Dies führt oft zu schlecht sozialisierten oder gesundheitlich belasteten Hunden, die zusätzliche Vorbereitung erfordern.
Wenn heute viele Hunde auf der Hundewiese spielen oder sich auf engen Gehwegen begegnen, braucht es mehr als nur Glück. Hier beginnt das „Management“: Schleppleinen, Futterbelohnungen und andere Hilfsmittel sind oft notwendig, um den Alltag zu bewältigen. Der „volle Rucksack“ symbolisiert das komplexer gewordene Miteinander und die Notwendigkeit, sich mehr anzustrengen, um harmonisch zusammenzuleben
Anspruchsvolle Rassen, anspruchsvolle Zeiten
Schaut man sich die Hundewiesen und Parks von heute an, begegnet man einer bunten Mischung: Französische Bulldoggen, Labradore, Border Collies, Shiba Inus und viele mehr. Diese Vielfalt ist wunderschön, bringt aber auch ihre Tücken mit sich. Viele der heute populären Rassen wurden ursprünglich für spezifische Aufgaben gezüchtet – sei es das Hüten von Schafen, das Jagen im dichten Unterholz oder das Bewachen von Haus und Hof.
Besonders bei Rassen wie dem Australian Shepherd oder dem Weimaraner, die in den letzten Jahren an Beliebtheit gewonnen haben (Beobachtung aus der Praxis … die zwei Rassen stehen exemplarisch für die populären Arbeitsrassen), wird die Herausforderung deutlich. Beide Rassen wurden gezüchtet, um viel in Bewegung zu sein und auch teilweise eigene Entscheidungen zu treffen. Diese Hunde passen nicht ohne weiteres in das schnelle, oft stressige Stadtleben oder in ein „Familienleben“ auf dem Sofa. Ihre ursprünglichen Aufgaben erforderten intensive Arbeit und Bewegungsfreiheit, und es kann problematisch werden, wenn sie diesen Bedürfnissen nicht nachkommen können.
So kommt es, dass wir mit Futterbeuteln, Spielzeugen und Trainingszubehör unterwegs sind, um diese Hunde geistig und körperlich „auszulasten“ (by the way ein furchtbarer Begriff). Ein Spaziergang ist heute oft keine einfache Runde mehr, sondern gleicht einem kleinen Trainingsprogramm. Wer einen anspruchsvollen Hund hat, weiß, dass es ohne Beschäftigung schnell zu Problemen kommen kann. Ein Weimaraner, dem die Möglichkeit zum Laufen und Jagen fehlt, oder ein Australian Shepherd, der nicht arbeiten darf, zeigt oft Frustration und entwickelt unerwünschte Verhaltensweisen.
Doch genau hier liegt auch ein gesellschaftlicher Spiegel: Die Ansprüche an das Zusammenleben sind gestiegen, genauso wie die Erwartung, dass Hunde „funktionieren“ und sich „benehmen“ – egal, wie schwierig ihre Natur vielleicht ist. Während die Entscheidung für einen aktiven, arbeitsfreudigen Hund oft aus dem Wunsch entsteht, einem tollen Begleiter ein Zuhause zu geben, sollte auch bedacht werden, wie sich die Lebensumstände auf das Wohl des Tieres auswirken.
Die Erwartungen der Gesellschaft – und unser Druck, ihnen zu entsprechen
Doch es geht nicht nur um die Anzahl und Art der Hunde, sondern auch um unsere Ansprüche an das Zusammenleben. In einer dicht besiedelten Gesellschaft, in der wir Tür an Tür leben und uns täglich begegnen, sind die Erwartungen an gut erzogene, „funktionierende“ Hunde enorm gestiegen. Ein Hund, der bellt, wenn es klingelt, oder an der Leine zieht, wenn er einen anderen Hund sieht, ist heute oft ein „Problemhund“. Das bedeutet für Halter*innen, dass sie mehr tun müssen, um den Hund „gesellschaftsfähig“ zu machen – und das beginnt schon beim täglichen Spaziergang. Die Toleranzgrenze sinkt, und so steigt der Druck auf Hundehalter*innen, für reibungslose Abläufe zu sorgen.
Es gibt auch eine zunehmende Regulierung und Kontrolle im öffentlichen Raum. Hunde dürfen oft nur an der Leine geführt werden, und in vielen Parks gibt es eigene Bereiche, wo dann alle Hunde frei laufen dürfen. All das führt dazu, dass das Leben mit Hund viel komplexer geworden ist. Die Zeiten, in denen der Hund einfach mal querfeldein lief, sind in vielen Bereichen vorbei. Das verlangt uns als Gesellschaft, aber vor allem auch den Hundehalter:innen einiges ab.
Mit diesem Druck wächst die Notwendigkeit, jederzeit vorbereitet zu sein. Der Rucksack wird damit zu einer Art Sicherheitsnetz. Alles, was dabei ist – sei es ein Ball, der den Fokus des Hundes lenkt, oder Leckerchen, die ihn schnell abrufbar machen – hilft, in der Öffentlichkeit keine Fehler zu machen. Das ist nicht immer leicht, denn die Gesellschaft wird zunehmend anspruchsvoller, und das „funktionierende“ Zusammenleben erfordert ständige Wachsamkeit und Kontrolle.
Mehr Wissen, mehr Unsicherheit – der Fluch der Informationsflut
Dank Büchern, YouTube-Kanälen, Social Media und Hundetrainer:innen wissen wir heute mehr über Hunde und ihr Verhalten als je zuvor. Wir verstehen, wie Hunde lernen, wie wichtig die richtige Sozialisierung ist, und dass Erziehung und Training der Schlüssel zu einer harmonischen Mensch-Hund-Beziehung sein kann. Doch all dieses Wissen hat auch eine Kehrseite: Es setzt uns unter Druck. Die Fülle an Informationen und Ratschlägen kann schnell überfordern. Was tun, wenn der eine Trainer „Belohnung“ predigt und der andere „klare Grenzen“? Wenn die Erziehung des Hundes zu einer Wissenschaft wird, die von uns perfekte Umsetzung verlangt, kann das belasten.
Der „volle Rucksack“ steht auch für diesen Druck, immer alles „richtig“ machen zu müssen. Für die Sorge, dass man das Training nicht optimal gestaltet oder dem Hund nicht gerecht wird. Es ist kein Wunder, dass viele Hundebesitzer*innen sich überfordert fühlen und ständig das Gefühl haben, nicht genug zu tun.
Ein klares Bild unserer Zeit: Wir wollen Kontrolle, Sicherheit und Harmonie
Warum also tragen wir heute diesen „vollen Rucksack“, wenn wir mit unseren Hunden unterwegs sind? Weil wir die Kontrolle behalten wollen. Weil wir uns und unseren Hunden Sicherheit geben wollen. Und weil wir versuchen, in einer immer komplexer werdenden Welt Harmonie zu finden. Das Leben mit Hund ist heute ein Balanceakt zwischen den Bedürfnissen des Hundes, den Erwartungen der Gesellschaft und den eigenen Möglichkeiten und Grenzen.
Fazit: Loslassen und wieder das Wesentliche sehen
Was bedeutet das alles für uns? Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auf den gemeinsamen Moment, das Erlebnis, das Zusammensein mit dem Hund. Nicht jeder Spaziergang muss ein Training sein, nicht jeder Ausflug muss perfekt geplant und ausgeführt werden. Es ist okay, auch mal etwas Unordnung zuzulassen – im Rucksack und im Leben.
Denn am Ende geht es nicht darum, dass unser Hund perfekt funktioniert oder wir alles richtig machen. Es geht darum, die gemeinsame Zeit zu genießen, in die Natur einzutauchen, den Hund schnüffeln zu lassen und einfach das Zusammensein zu feiern. Lass den Rucksack doch ab und zu mal zu Hause. Atme tief durch und erinnere dich daran: Du machst das großartig, und dein Hund liebt dich nicht wegen deines Trainingsprogramms – sondern weil du du bist.
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