“Der ist nicht aggressiv, der ist nur unsicher”: Ein weit verbreitetes Missverständnis

Vielleicht hast du diesen Satz schon mal gehört, während der Hund an der Leine tobt, bellt und wild in das Halsband springt: „Der Hund ist nicht aggressiv, der ist nur unsicher.“ Klingt erstmal beruhigend, oder? Schließlich möchte niemand, dass der eigene Hund als “aggressiv” wahrgenommen wird. Doch dieser Satz greift zu kurz und führt oft zu einem Missverständnis, das viele Hundebesitzer gerne annehmen. Aggression wird häufig als böse und schlecht bewertet, während Unsicherheit Mitleid und Fürsorge weckt. Doch die Realität ist komplexer: Aggression ist nicht immer Ausdruck von Unsicherheit – und sie ist auch nicht zwangsläufig schlecht.

Emotionalisierung und Fehlinterpretationen von Unsicherheit

In der Hundeerziehung emotionalisiert Unsicherheit stark und wird häufig mit einer Opferrolle gleichgesetzt. Viele Halter entwickeln Mitleid: „Der arme Hund reagiert aus Angst und ist daher das Opfer.“ Hingegen wird Aggression oft als Verhalten des „Täters“ betrachtet – ein Bild, das viele bei ihrem eigenen Hund nicht akzeptieren wollen.

Das Problem dabei? Grenzen und klare Kommunikation bleiben aus. Aus Sorge, der Hund könnte noch unsicherer werden, scheuen wir davor zurück, notwendige Grenzen zu setzen. Doch nicht jeder unsichere Hund wird aggressiv, und nicht jeder aggressive Hund ist unsicher. Manche Hunde reagieren aus Frust, dem Wunsch nach Distanz oder Selbstbewusstsein aggressiv – und das ist nichts Ungewöhnliches!

Ein unsicherer Hund, der Aggression zeigt, braucht klare, konsistente Führung und Grenzen. Er muss lernen, in stressigen Situationen angemessen zu reagieren. Wenn wir jedoch nur die Unsicherheit betonen, riskieren wir, dass das Problemverhalten verstärkt wird. Das passiert, wenn Mitleid das Setzen von Grenzen verhindert.

Fachlich falsch: Unsicherheit und Aggression gleichsetzen

Wenn wir sagen, „Der Hund ist nicht aggressiv, der ist nur unsicher“, dann ist das nicht nur eine emotionalisierte Sichtweise, sondern auch fachlich falsch. Unsicherheit ist eine Emotion, während Aggression eine Verhaltensweise und Kommunikationsform ist. Es wäre so, als würde man sagen: „Der Mensch ist nicht unhöflich, er ist nervös.“ Nervosität ist eine Emotion, unhöfliches Verhalten dagegen eine bewusste Reaktion auf diese Emotion. Genauso verhält es sich mit Hunden: Ein Hund kann unsicher (nervös) sein, muss aber nicht zwangsläufig aggressiv (unhöflich) reagieren. Übrigens, auch ein Mensch würde erst sein unhöfliches Verhalten reflektieren, wenn ihn jemand darauf aufmerksam macht – gleiches gilt für unsere Hunde.

Unsicherheit beschreibt den emotionalen Zustand des Hundes, der sich bedroht oder überfordert fühlt. Aggressives Verhalten hingegen ist die Art und Weise, wie der Hund auf diesen emotionalen Zustand oder eine bestimmte Situation reagiert.

Der Eskalationsprozess: Vom Imponieren zur Aggression

Hunde gehen nicht direkt über zum Angriff. Eskalation ist nicht die erste Wahl. Zunächst versuchen sie, Konflikte durch Imponierverhalten (das übrigens schon zum Aggressionsverhalten zählt) zu vermeiden. Sie straffen ihren Körper, stellen das Fell auf und wirken größer, um eine Auseinandersetzung zu verhindern. Sie senden dabei klare Signale: „Bleib weg!“ – in der Hoffnung, dass es nicht weiter eskaliert.

Doch was passiert, wenn diese Signale ignoriert werden? Der Hund wird deutlicher, zeigt Drohgebärden und greift schließlich (echt oder zum Schein) an. Aggression ist also nicht zwangsläufig ein Zeichen von Unsicherheit, sondern dass er seine anderen Kommunikationsformen ausgeschöpft hat und nun auf deutlichere Weise reagiert. Selbst wenn der Hund zu Beginn unsicher war, spricht seine Entscheidung, eine bestimmte Strategie zu wählen, eher dafür, dass er darin sicher wird. Und wenn diese Strategie funktioniert, wird er mit der Zeit selbstbewusster darin.

Warum das Bild des „unsicheren Hundes“ so beruhigend wirkt

Die Vorstellung, dass der Hund „nur unsicher“ ist, ist angenehmer als der Gedanke, er könnte “aggressiv” sein. Unsicherheit wird oft als verständliche Reaktion auf schlechte Erfahrungen gesehen – besonders bei Hunden aus dem Tierschutz. Es ist nur menschlich, in diesen Momenten Mitleid zu empfinden und dem Hund Schutz bieten zu wollen – und somit auch den Schutz vor potentiellen Grenzen oder Korrekturen durch den Halter. Manchmal ist es auch eine bequeme Art, sich vor dem Konflikt zu drücken: Wer Grenzen setzt, fühlt sich vielleicht kurzfristig nicht als der „beliebte“ Teil des Teams.

Doch Vorsicht! Wenn wir das Verhalten unseres Hundes nur durch die Brille des Mitleids betrachten, übersehen wir leicht seine echten Bedürfnisse. Aggressives Verhalten passt oft nicht zum Bild eines geliebten Familienmitglieds, also sehen wir den Hund lieber als Opfer seiner Umstände. Doch für Hunde ist Aggression eine völlig normale Kommunikationsform. Es ist entscheidend, die Signale des Hundes zu verstehen – ohne sofort Mitleid zu empfinden.

Exkurs: Unsicherheit erkennen

Unsicherheit ist eine natürliche emotionale Reaktion bei Hunden, genau wie bei uns Menschen. Sie tritt in Situationen auf, die der Hund als bedrohlich oder unvorhersehbar empfindet, und ist an sich kein „Problemverhalten“, sondern eine normale Reaktion auf den Mangel an Strategien und Sicherheit oder auf Überforderung.

Woran erkennt man Unsicherheit bei Hunden? Hunde, die unsicher sind, zeigen oft folgende Signale:

  • Beschwichtigungssignale wie das Lecken der Lippen, Gähnen oder das Abwenden des Blicks. Diese Signale werden häufig in stressigen Situationen gezeigt, um Konflikte zu vermeiden oder um zu signalisieren, dass der Hund keine Bedrohung darstellt.
  • Vermeidung – der Hund versucht, sich von der stressigen Situation zu entfernen oder versteckt sich, um dem Reiz aus dem Weg zu gehen.
  • Niedrige Körperhaltung – der Hund duckt sich, hält die Rute tief oder klemmt sie zwischen die Beine. Dies zeigt Unterwerfung oder Angst.
  • Zögerliches Verhalten – der Hund wirkt unentschlossen und bewegt sich nur langsam oder unsicher, was darauf hinweist, dass er sich über die Situation nicht sicher ist.
  • Vermeidung von Augenkontakt – der Hund schaut weg oder senkt den Kopf, um Konfrontationen zu vermeiden.
  • Defensive Aggression – wenn der Hund sich bedroht fühlt und keinen Ausweg sieht, kann er aus Selbstschutz aggressiv reagieren. .

Unsicherheit ist keine Schwäche und zunächst einmal kein Problem. Sie wird erst dann problematisch, wenn der Hund dauerhaft unsicher ist, damit alleine gelassen wird und nicht die Möglichkeit hat, Selbstvertrauen zu entwickeln. In vielen Fällen ist Unsicherheit eine normale, vorübergehende Reaktion, die mit der richtigen Unterstützung überwunden werden kann.

Die Gefahr der Emotionalisierung

Wenn wir das Verhalten unseres Hundes stets mit Unsicherheit erklären, laufen wir Gefahr, wichtige Signale zu übersehen. Ein Hund, der knurrt, die Zähne zeigt oder schnappt, kann Angst haben – aber das ist meist nicht die ganze Geschichte. Wenn wir die Unsicherheit emotional überhöhen, verlieren wir die Objektivität.

Aggression ist in Wirklichkeit eine ganz normale Kommunikationsform für Hunde. Sie setzen Aggression ein, um Grenzen zu ziehen, Ressourcen zu schützen oder sogar um Konflikte zu vermeiden oder zu lösen. Nicht jede aggressive Reaktion ist ein Zeichen von Unsicherheit – oft ist es eine klare Antwort auf eine wahrgenommene Bedrohung. Diese Bedrohung kann sich nicht nur auf die körperliche Unversehrtheit des Hundes beziehen, sondern auch auf seinen Status, seine Ressourcen oder die Kontrolle über eine Situation.

Beispiel für ein Missverständnis

Ein gutes Beispiel aus der täglichen Arbeit mit Leinenpöblern könnte diese Begegnung zwischen einem Border Collie und einem Deutschen Schäferhund sein. Der Collie fixiert den Schäferhund und setzt ihn durch sein Hüteverhalten unter Druck. Der andere Hund reagiert auf Höhe des Borders mit Bellen und in die Leine springen – und die Halter*innen sind verwirrt: „Die waren doch die ganze Zeit so brav, die Attacke kam aus dem Nichts! Wahrscheinlich ist der Schäferhund unsicher – immerhin wurde er mal als Welpe von einem Collie gebissen

Doch bei genauerem Hinsehen sieht die Situation ganz anders aus. Der Border Collie zeigt ein typisches Hüteverhalten: Er fixiert den anderen Hund mit starrem Blick, seine Bewegungen sind angespannt, und er schleicht fast lautlos. Dabei läuft der Collie geduckt und bewegt sich geschmeidig, fast pirschend, bleibt jedoch stets mit den Augen auf seinen Kontrahenten. Dieses Verhalten kann für andere Hunde sehr unangenehm und bedrohlich wirken, da das Fixieren einen erheblichen Druck aufbaut.

Der Schäferhund zeigt daraufhin Imponierverhalten: Er macht sich größer, hebt den Kopf, trägt die Rute hoch und bewegt sich steif. Dies sind klare Signale, dass er die Konfrontation vermeiden, aber auch seine eigene Position behaupten will. Er möchte den Collie durch seine Körpersprache dazu bringen, Abstand zu halten. Der Druck, den der Collie weiterhin ausübt, lässt dem anderen Hund schließlich keine andere Wahl, als mit einer Attacke zu reagieren – nicht aus Unsicherheit, sondern weil er die fixierende Bedrohung des Collies durchbrechen und sich und seinen Status verteidigen möchte.

Beide Hunde haben in dieser Situation sehr früh schon klare Signale gesendet – die ersten Signale sieht man meist schon bei großer Distanz: Der Border Collie hat den anderen Hund mit seinem Hüteverhalten unter Druck gesetzt, während der zweite Hund versucht hat, durch Imponierverhalten die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Als seine eigenen Signale jedoch nicht beachtet wurden und die Menschen unbehelligt einfach weitergingen, eskalierte er. Es ging also nicht um Unsicherheit, sondern um die Verteidigung des eigenen Raums und Status.

Was hätten die Halter anders machen können?

  • Körpersprache der Hunde lesen – Imponierverhalten und Drohfixieren frühzeitig erkennen und die Situation entschärfen.
  • Frühzeitiges Eingreifen beim Border Collie – Das Fixieren und Hüteverhalten des Collies frühzeitig unterbrechen, um den Druck auf den anderen Hund zu reduzieren (z.B. durch Abbruch oder Ansprache).
  • Distanz schaffen – Hunde auf die abgewandte Seite nehmen und durch das Laufen eines Bogens deeskalierend einwirken.
  • Alternativverhalten trainieren – Dem Border Collie beibringen, statt zu fixieren, ein alternatives, ruhiges Verhalten zu zeigen.
  • Umgebung managen – Vorherige Absprache zwischen den Haltern, um Begegnungen bewusst und kontrolliert zu gestalten.

Hilfestellung: Die Körpersprache deines Hundes verstehen

Wenn du deinem Hund wirklich helfen möchtest, solltest du seine Körpersprache beobachten können, ohne sie zu bewerten. Hier ein paar Tipps:

  • Beobachte deinen Hund neutral und wertfrei – stelle dir vor du beschreibst einen anderen Hund, nicht deinen eigenen – das hilft manchmal die nötige Distanz zu wahren.
  • Nutze die Slow-Motion-Funktion deines Handys, um die Reaktionen deines Hundes zu analysieren. Zeigt er Imponierverhalten? Ist er wirklich ängstlich oder tritt er selbstbewusst auf?
  • Achte auf subtile Signale: Steht dein Hund sicher oder weicht er zurück? Diese Details verraten viel darüber, wie er sich fühlt.

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Fazit: Aggression und Unsicherheit richtig verstehen

Die Emotionalisierung von Unsicherheit gibt uns vielleicht ein gutes Gefühl, hilft aber weder uns noch unserem Hund. Aggressives Verhalten ist nicht immer ein Zeichen von Unsicherheit – und Unsicherheit ist kein Problem, das man mit Mitleid lösen kann.

  • Aggression ist eine normale Kommunikationsform für Hunde und sollte nicht negativ bewertet werden.
  • Die Vorstellung, dass ein Hund „nur unsicher“ ist, bietet emotionalen Komfort, verfehlt aber oft die tatsächlichen Ursachen.
  • Übermäßiges Mitleid führt dazu, dass das Verhalten des Hundes falsch interpretiert wird.
  • Ein ausgewogener Ansatz, der sowohl mögliche Unsicherheit als auch Aggression berücksichtigt, ist der Schlüssel zu einem besseren Verständnis und einem harmonischen Zusammenleben mit deinem Hund.
  • Mitgefühl darfst du immer für deinen Hund haben – aber Mitleid sollte dich nicht davon abhalten, klare Grenzen zu setzen und deinem Hund die Sicherheit zu geben, die er wirklich braucht.

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Hanna David
Hanna DavidGründerin Coaching für Hundehalter
Expertin für Hundeverhalten, Erziehung und Persönlichkeit, Coach, Dozentin, Autorin